Anstatt eines Vorworts diesmal dieser wunderbare und poetische Auszug aus Nina Nells Roman „One“

 

"Nebel lag auf den Wiesen an diesem Morgen. Feinster Staub von Wasserpartikeln tanzte über den Grashalmen und bedeckte die Natur wie eine zarte, weiche Decke, unter derer stiller Umarmung noch alles schlummerte. Es war ein wunderbarer Anblick. Ein Bild, das sie schon oft gesehen hatte. Doch sie sah es nicht mit ihren Augen. Es war mehr ein Zusammenspiel verschiedener Bewusstseinsformen, das sich für sie zusammenfügte und in ihrer Wahrnehmung sichtbar wurde. Sie spürte jeden Luftstrom und jeden feinsten Wassertropfen, doch nichts davon konnte ihre Sinne berühren. Sie konnte die kühle Luft nicht einatmen, die Stille nicht hören, die Feuchtigkeit nicht auf ihrer Haut spüren. Denn sie war nicht davon getrennt. Sie war jedes Wassermolekül, jedes Sauerstoffatom, jeder Grashalm unter der dichten Nebeldecke. Sie war der Nebel und sie war der Morgen. Nur eines war sie nicht: Ein Mensch. Ein Körper, der diesen Moment erleben konnte. Sie war alles und nichts. Ein Bewusstseinsstrom, der die gesamte Existenz in sich vereinte und keine Trennung fühlen konnte.

 Sie konnte die feuchte Wiese nicht fühlen, weil sie sie nicht berühren konnte. Sie war die Wiese. Sie war alles. Sie fragte sich, wie es sich anfühlte, die Grashalme auf der Haut zu spüren. Zu fühlen, wenn sie etwas von der Feuchtigkeit auf ihrer Hand oder ihren Füßen hinterließen. Sie wollte so gern mit nackten Füßen hinüber laufen und erleben, was sie selbst war. Wiese, Nebel, Luft. Sie wollte alles spüren. Durch den Nebel gehen und ihn fühlen. Aber sie hatte für diese Erlebnisse kein Instrument. Keinen Körper. Keine Sinne. Plötzlich hörte sie eine Stimme. Sie drang durch ihr Bewusstsein wie ein warmer Strom und leuchtete in ihr auf wie hellblaues Licht. Sie kannte diese Stimme. Sie war ein Teil von ihr und gehörte doch zu einem anderen Bewusstseinsstrom. Sie waren eins. Sie und dieses blaue Licht. Es sagte: »Willst du deiner Sehnsucht nicht endlich nachgeben?« »Ein Mensch werden?«, fragte sie. »Wie könnte ich das? Es bedeutet Leid, nicht wahr? Die Trennung von allem, was ist. Ich sehe die Menschen so oft weinen und spüre ihren Schmerz, der nur aus dem Gefühl der Trennung kommt.« »Aber es bedeutet auch Glück«, sagte das blaue Licht und ließ erneut das Bild der nebelbedeckten Wiese in ihr aufleuchten. Und während sie es beide wahrnahmen, waren sie beide die Wiese und der Nebel. 

 

Er war direkt mit ihr verbunden. Ein Zwilling ihres Bewusstseins. Sie waren eins. »Durch die Trennung kannst du fühlen, sehen, hören, schmecken und riechen. Du kannst die Welt, die wir sind, berühren und sie erleben.« »Aber die Schmerzen«, sagte das Licht und scheute sich davor, diese Erfahrung jemals zu machen. »Sie sind nur eine Illusion. Du bist nicht wirklich getrennt. Es ist nur ein Schleier, den du jederzeit lüften kannst. Es ist ein Spiel. Du musst nicht leiden.« Sie spürte, wie das blaue Licht ihr Sein erhellte, aufleuchtete und mit ihr verschmolz. Sie tauchten ineinander und wurden zu einer neuen Farbe, die keinen Namen kannte. Ihre gelbe Farbe und sein blaues Licht wurden zu einem hellen Leuchten und sie explodierten in Ekstase, verschmolzen mit der Ewigkeit und tanzten in der grenzenlosen Existenz ihres Seins. Sie waren die Einheit, die alles was war, erfüllte. »Ich begleite dich, wenn du willst«, sagte das blaue Licht, als sie gemeinsam in den grenzenlosen Weiten des Universums leuchteten.

 »Wir könnten uns suchen.« Plötzlich strahlte sie in ihrem hellsten Glanz. »Das wäre wunderbar!«, sagte sie und war mit einem Mal fest entschlossen, diese Trennung doch zu wagen. Wenn ihr blaues Licht irgendwo auf dieser Erde war, würde sie es spüren können und sie würde niemals vergessen, dass die Trennung nur eine Illusion war. So würde sie auch nicht leiden können. Das blaue Licht lachte und umarmte sie mit seinem Leuchten. »Du warst noch nie dort, mein Licht. Ich jedoch habe schon viele Male als Mensch gelebt. Du wirst zunächst vergessen, dass du mit allem verbunden bist und dich nicht daran erinnern, dass wir eins sind. Ich werde einen anderen Körper haben, als du und wir werden an unterschiedlichen Orten und von unterschiedlichen Eltern auf die Welt gebracht werden. 

 

Wir werden getrennt sein und uns manchmal sehr allein fühlen, weil wir glauben, diese Trennung sei real. Sie fühlt sich auch sehr real an.« »Das macht mir nichts«, sagte das Licht zuversichtlich. »Ich weiß, ich werde dich spüren können. Ich muss doch nur diesem Gefühl folgen. Der Ekstase, der Liebe und dem Glück. Dem Einheitsgefühl. Dann werde ich dich finden. Und ich weiß, ich werde dich schnell finden. Je größer unsere Trennung ist, umso größer ist auch unsere Anziehungskraft, nicht wahr? Gegensätzliche Pole ziehen sich immer an, um eins zu werden.« »Ja«, sagte das blaue Leuchten in ihr. »Das ist wahr. 

 

Aber ich weiß, wie schwer es sein kann und um wirklich sicherzugehen, dass wir uns finden, sollten wir eine wirklich große Trennung vornehmen und zu zwei Polen werden, die gegensätzlicher nicht sein können. Dann werden wir uns der Anziehungskraft nicht entziehen können.« »Einverstanden«, sagte sie und ohne es zu merken, flog sie schon mit ihm auf die Erde zu.