Wer ist ein spirituelles Wesen? Jemand, die oder der sich verbunden mit allen Menschen und allen Wesen weiß, verbunden und zugehörig zu den Ahnen und den zukünftigen Generationen, sich der Verantwortung bewusst ist für das Ganze. Der die Schöpfung achtet. 

Oftmals, nicht immer, bedenkt er das Vorhandensein einer größeren Macht, von der er sich gehalten weiß. 

Er weiß sich mit allen verbunden, fühlt sich getragen von der Liebe, sie ist für ihn die größte Kraft. Er nimmt alles so an wie es ist. So jemand ist sich bewusst, dass man nicht wissen kann, ob aus dem Schlimmen mehr oder weniger Gutes entsteht als aus dem Guten. Mit dem 

Urteil hält er sich zurück. Es darf alles so sein wie es ist, auch wenn das Schlimme schlimm bleibt. 

Dieser Teil der Spiritualität kann die „diesseitige Spiritualität“ genannt werden oder auch die „Spiritualität des Lebens“. Aber das ist nur die eine Seite. Seit tausenden von Jahren gibt es die Sehnsucht nach der Unendlichkeit, danach, sich in einer tieferen Dimension als Eins zu erfahren, unendlichen Frieden und für den normalen Menschen unvorstellbare Stille und Glückseligkeit zu erfahren, und ebenso lang gibt es Menschen, die genau dies realisieren. Der Buddha ist einer von den ersten, die weltweite Bekanntheit als Erwachte, als Erleuchtete oder Aufgewachte erlangt haben. Diese Spiritualität kann die „Spiritualität des Aufwachens“ oder die „Spiritualität der Transzendenz“ genannt werden. Es transformieren sich nicht Bewusstseins-Inhalte, sondern Bewusstseins-Struktur. Nicht nur eine andere Art zu leben, sondern eine andere Art des Seins.

Beide Seiten der Spiritualität gehören zusammen. Transzendente Spiritualität ohne Spiritualität des diesseits ist für mich nicht vorstellbar, umgekehrt schon. Ich kenne viele Menschen, die ich sehr schätze, die die Spiritualität des Lebens, der Liebe und der Schöpfung leben, ohne etwas über das Aufwachen zu wissen oder anzustreben. Ich wundere mich oft, dass diese beiden Seiten der Spiritualität so gut wie nirgends unterschieden werden. Ganz falsch ist der Gedanke, durch die Spiritualität des Diesseits käme das Aufwachen von alleine zu einem. Das geschieht nicht, nötig ist eine innere Öffnung für die innere Tiefe, sich einzulassen auf alles, was innerlich auftaucht an Gefühlen ohne etwas zu tun, sodass ein Hineinsinken in den inneren Grund geschehen kann als direkte innere Erfahrung – jenseits aller Bilder, Körperempfindungen, jenseits aller sinnlichen Wahrnehmungen. Ein vollständiges Nicht-Tun, das ein körperliches, emotionales und geistiges Loslassen und Gelöstsein voraussetzt. Das Hineinsinken wird immer tiefer, bis es schließlich ein Schweben und ein Fliegen wird und die Unendlichkeit selbst und eine zuvor unvorstellbare Stille erfahren wird. Dazu reicht nicht der gute Wille, dazu ist ein bewusstes und engagiertes Lösen von Blockaden, ein gelöster Atem nötig genauso wie die Fähigkeit, ganz zu fühlen ohne etwas zu tun. Das erfordert innere Arbeit, auch Arbeit mit dem Körper. Das Aufwachen oder Erleuchtung ist dann ein Geschenk, aber keine ferne Vision, sondern geschieht real in diesem Leben. In meiner Arbeit mit Menschen habe ich das Aufwachen von hunderten von Menschen erlebt.

Das Aufwachen schließt die fundamentale Erfahrung ein, dass es nie ein Ich gegeben hat. Handlungen geschehen, Gedanken und Gefühle entstehen und vergehen, aber es gibt keinen Handelnden und keinen Denker. Es fühlt sich befreiend an, dass die Dinge geschehen, aber niemand da ist, der sie tut. So gibt es niemanden, der Schuld hat, niemanden, der versagt, auch niemanden, der großartig ist. Es gibt Frieden, Einverstandensein und Lebendigkeit. Der Verstand ist zu einem großen Teil still und nur in dieser Stille kann Frieden und Glückseligkeit wahrgenommen werden. Der normale Mensch stellt sich Gefühle darunter vor und vergleicht es mit seinen eigenen Erfahrungen. Tatsächlich ist es etwas grundlegend Anderes, Tieferes, eine ganz andere Dimension der Erfahrung.

Jetzt gibt es oft Verwirrung und ein Unverständnis. Weil niemand da ist, der oder die etwas tut, wird geschlussfolgert, alles ist vorherbestimmt, es gibt ja niemanden der sich um das Leben, um Erfolg kümmern könnte. Als wenn das Ich, Person, Persönlichkeit dasselbe wäre. Hatte ein Buddha, ein Martin Luther King, ein Krishnamurti oder Ramana Maharshi keine Persönlichkeit? Natürlich. Durch das Aufwachen wird die Persönlichkeit farbiger und lebendiger, nicht weniger. Und, nur weil es kein Ich gibt, gäbe es keine Person? Was ist das Ich überhaupt? Die Griechen etwa konnten sich nicht vorstellen, dass ein Sturm durch Tiefdruckgebiete und Kaltfronten entsteht; sie glaubten, dass ein Jemand diesen Sturm machte, der Meeresgott Poseidon. So kann sich der normale Mensch auch nicht vorstellen, dass Handlungen und Gedanken entstehen durch die Bewegung verschiedener Erwartungen, inneren Bildern, Handlungs- und Gedankenformen die vorausgingen. Es muss ein Ich sein, das das tut, ohne das, so glaubt man geht es nicht. Es entsteht innerlich ein Teil des Selbst, der alles kommentiert und beurteilt, ein Teil, der glaubt zu wissen, was du tun „solltest“ und tun „müsstest“ und vor allem, ob du es gut genug gemacht hast. In seinen Augen bist du abwechselnd die Versagerin oder großartig oder so naja. Und vor allem: dieser Teil reklamiert die Urheberschaft des Ichs, was zu belohnen oder zu verurteilen ist. Was für eine Befreiung, wenn dieser Teil des Selbst ganz ruhig, ganz still wird, was für eine Erleichterung! Und das eben geschieht durch das Aufwachen.

Viele spirituelle Lehrer sagen nicht nur, da ist niemand der etwas tun kann, sondern auch, da könnte nichts getan werden. Auch nichts getan werden für das Aufwachen. Aber natürlich auch für alles andere nicht. Das ist ein Missverständnis. „Der Meister tut nichts, und dennoch bleibt nichts ungetan“, das sagt Laotse uns. Der Organismus – der besser ohne jedes Ich auskommt – besteht aus dem physischen Körper, dem Emotional-Körper und dem Geist, dem Mental-Körper. Der Organismus ist das, das etwas tut. Und was noch spannender ist: er tut immer wieder etwas nicht Zwangsläufiges, er ist schöpferisch. Irgendwann hat ein bestimmter Organismus gesagt: Das ist zu blöde diesen schweren Koffer zu tragen, da gehören Rollen drunter. Ein absolut kreativer Akt, für den wir beim Reisen alle dankbar sind. Das Schöpferische des Organismus sehen wir täglich. Die kreative Umwandlung eines Rezeptes. Ein Bild. Etwas Neues schaffen. 

Menschen haben eine unterschiedliche Fähigkeit, sich für Ziele und Bedürfnisse einzusetzen und die Umwelt zu gestalten, eine unterschiedliche Selbstwirksamkeit, verursacht durch die Lebenserfahrungen und die Überzeugungen, die sich daraus entwickelt haben. Selbstwirksamkeit und Selbstwirksamkeitserwartung können verändert werden! Auch Tiere haben eine unterschiedliche Selbstwirksamkeit und sicher keine Ich-Illusion! Deine eigene Überzeugung, die vielleicht lautet: „Ich kann dies oder das nicht schaffen“ kann sich ändern. Durch schlimme Erfahrungen, durch traumatisierende Wunden entwickeln wir Blockierungen, die eigentlich ein Schutz sind, aber wir trauen uns nicht, uns im Beruf für uns einzusetzen, zu bitten oder gar zu fordern. Jemand mit dem Wunsch nach Selbstständigkeit traut sich nicht, Werbung für sich zu machen. Wir sind blockiert, wirkliche Nähe zuzulassen, wir glauben, uns schützen zu müssen. Auch in Bezug auf das Aufwachen kann jemand blockiert sein, glauben, dass nur andere aufwachen könnten. Durch die innere Arbeit können solche Blockierungen sich lösen, die Wunden, auch die traumatisierenden Wunden können heilen. Dann wird dieser Mensch erfolgreicher. 

Die Spiritualität des Lebens bedeutet dann: Erfolgreich sein, aber nicht das Geld bestimmen lassen. Das Ganze im Blick haben und den Nächsten, den Mit-Mensch. Selbstwirksamkeit kann zunehmen. Und wenn dann die Ich-Illusion schwindet, als Folge der Spiritualität des Aufwachens, sogar noch leichter. Lebendig werden, authentisch sein und Aufwachen. Aufwachen und Leben im Einklang. 

 

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