Die Jahrtausendwende war sicherlich nicht nur für mich ein Wendepunkt, ein Übergang, eine Transformation in eine neue Dimension. Für mich stellte sie sich als Krise dar, die in der Frage gipfelte: will ich leben, oder will ich sterben? Manche würden es vielleicht als eine ganz „normale“ Mid-Life-Crisis abtun, doch ich habe nicht vor, schon mit 80 abzutreten. Also nenne ich es mal eine Third-Life-Crisis.
Über zehn Jahre hinweg hatte ich mich in Arbeit gestürzt und alles an mich gerissen, was mir die Zeit nahm, tief ins Fühlen zu gehen. Im internationalen Vertrieb arbeitete ich selten weniger als 60 Stunden die Woche und war „nebenher“ noch an jedem zweiten Wochenende mit meiner Musikgruppe unterwegs. Aus verschiedenen Gründen blieb mir eine Vaterschaft versagt, was mich möglicherweise doch ein wenig zur Ruhe gebracht hätte.
So lag ich also kurz vor der Jahrtausendwende Abend für Abend im Bett, verschränkte meine Hände über der Brust und hoffte, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Das Leben hatte jedoch andere Dinge mit mir vor und machte mich mit einer Frau bekannt, die meinen schon weitestgehend ins Schattenreich abgewanderten Geist wieder für die Sonnenseiten des Lebens interessierte. Aus Faszination wurde Verliebtheit und die stürzte mich in eine neue Verzweiflung: Ich kann doch nicht zwei Frauen lieben!
In dieser Verzweiflung pilgerte ich vom Hausarzt, über Gesprächstherapeut zum Psychologen. Diesem Mann bin ich heute noch dankbar, dass er mich in die Selbstverantwortung nahm. „Schauen Sie mal, was Sie über das Herrenalber Modell und einen gewissen Dan Casriel herausfinden …“. Ich fand heraus, dass Walter Lechler, der Gründer dieses Modells in den 70er Jahren ein ganzheitliches Therapie-Konzept erschuf, dass unter anderem auf dem 12-Schritte-Programm und den Erkenntnissen von Dan Casriel basierte und in einer therapeutischen Gemeinschaft umgesetzt wurde.
Mein Weg aus der Krise begann in der Klinik Bad Herrenalb mit Bonding Therapie, Familienstellen, konzentrativer Bewegungstherapie (KBT), anonymen Selbsthilfegruppen in einer therapeutischen Gemeinschaft, die mir ein Weglaufen vor mir selbst erschwerte. Zunächst fragte ich mich, was ich unter diesen vielen „Süchtigen“ verloren hätte … Bei meiner Vorstellung in der therapeutischen Gemeinschaft wurde ich auf dem „heißen Stuhl“ vom Oberarzt gefragt: „Sind Sie normal oder gesund?“ Meine erste Hoffnung war, „normal“ zu sein, doch stellte sich bald heraus, dass das, was ich unter Normalität verstand, nicht gerade gesund war.
Ist es auf die Dauer gesund, mit dem Strom zu schwimmen? Zu tun, was andere von mir erwarten? Möglicherweise sogar schon antizipativ Dinge zu tun, von denen ich glaube, dass andere sie von mir erwarten könnten? Ist es auf die Dauer gesund, meine Gefühle, meine Wünsche und Hoffnungen, den Erwartungen anderer Menschen unterzuordnen? Mir auf die Zunge zu beißen und nicht zu sagen, was ich denke und fühle, oder gar schon die eigenen Gedanken zu zensieren nach dem Motto: das darf ich nicht denken, sonst werde ich nicht geliebt?
In Bad Herrenalb lernte ich, dass es nicht nur stoffliche Süchte gibt. Abhängigkeiten auf emotionaler Ebene, Co-Abhängigkeiten als Angehörige von stofflich Süchtigen. Arbeitssucht, Sexsucht, Mediensucht. Was mich jedoch am meisten erstaunte und Selbsterkenntnis brachte war ein Zitat von Walter Lechler: „Depression ist die Sucht nach Leiden und die Angst vor Konfrontation.“ Plötzlich verstand ich, wie ich mich in meine Situation hineinmanövriert hatte. Die Angst vor Konfrontation, vor Konflikten und dem daraus resultierenden Gefühl, abgelehnt, nicht geliebt zu werden erzeugt Leiden. Und irgendwann kam der Punkt, wo mir dieses Leiden so vertraut und geliebt war, dass ich in Depression verfiel.
In der Eingangshalle an der Wand stand: „Hier bekommst du nicht das, was du willst, sondern das, was du brauchst.“ Und in der Tat war die Zeit in Bad Herrenalb für mich wie ein Untergehen im Wasser bis auf den Grund, wo ich mich abstoßen konnte, um wieder an die Oberfläche, wieder ans Licht zu kommen. Das ist jetzt über 20 Jahre her und ich bin dankbar für den Weg, den mein Leben seither genommen hat.