Der Prophetenberg - 

 

      oder wie der Prophet zum Berg kam...

 

Eines Abends sitze ich im Kreis meiner Freunde und wir unterhalten uns über das Leben, was uns darin so alles widerfährt und was wir daraus gelernt haben. Plötzlich taucht dieses eine Wort auf. Es ist aus einer fremden Sprache und jemand fragt was es bedeutet. Ich sage, dass es bedeutet „Wenn der Berg nicht zum Prophet kommt, muss der Prophet eben zum Berg kommen“. Dann setze ich nach, dass es eigentlich verkürzt schlicht „Der Prophetenberg“ bedeutet und auf eine Geschichte dieses berühmten orientalischen Schriftstellers zurückgeht. Einer meiner Freunde schüttelt verwundert den Kopf denn er kennt die Geschichte nicht, worauf ich mich entschließe sie aus meiner Erinnerung zu erzählen.

 

Ein Mann möchte unbedingt herausfinden wie er Vollendung finden kann. Er begibt sich auf Reisen und fragt jeden den er trifft, aber niemand kann ihm sagen wie er Vollendung findet. Alle sagen so etwas wie "Ach ja, die Vollendung die würde ich auch gerne 

finden. Wenn Du sie findest bitte erzähle mir davon!" 

Und so geht der Mann immer weiter bis er eines Tages auf eine Kuh trifft und sie fragt: 

"Liebe Kuh, kannst Du mir sagen wie ich Vollendung finde?" Da lacht die Kuh und sagt "Na klar, das ist 

eigentlich ganz einfach aber wie soll ich es Dir erklären? Stell Dir einen Berg vor. Es ist ein wunderschöner Berg mit vielen Wiesen für die Kühe, Bäume für die Vögel und Wege für die Menschen. Er ist wunderschön aber er ist traurig und unzufrieden, denn er möchte unbedingt Vollendung finden. Er fragt jeden der zu ihm kommt: "Sag mir wie ich Vollendung finden kann!" Er fragt die Kühe die auf ihm grasen, die Vögel, die auf ihm landen und die Menschen, die auf ihm wandern und sich an ihm erfreuen. Aber keiner kann ihm helfen. Er ist total unglücklich, weil er nicht herausfinden kann wie er Vollendung erfahren kann und alle Kühe, Vögel, Menschen machen sich Sorgen um seinen Zustand und würden ihm gerne dabei helfen, weil er so ein schöner und für alle so wertvoller Berg ist. 

Eines Tages erfährt er von einem Propheten, der in einem fernen Land lebt und zu dem Tausende pilgern, um von ihm über Vollendung zu erfahren. Da wird der Berg noch unglücklicher und fängt an zu jammern, dass er, der Berg nicht in dieses ferne Land reisen kann. Alle die auf ihm 

grasen und wandern halten es kaum noch aus und erzählen es weiter wie unglücklich der Berg auf seiner Suche nach Vollkommenheit ist.

 

Schließlich erhält der Prophet Kunde von dem unglücklichen Berg. Er sitzt vor Tausenden seiner Schüler und predigt über die Vollkommenheit. 

Er steht auf und sagt "Wenn der Berg nicht zum Propheten kommen kann,  dann muss eben der Prophet zum Berg kommen." Spricht es und macht sich auf den langen langen Weg zum Berg, seine tausend Schüler im Schlepptau. Man kann sich die Karawane vorstellen, die da durch viele Länder zieht, um schließlich nach langer langer Reise beim Berg anzukommen. 

 

Als der Berg den Propheten kommen sieht, ist er höchst erfreut und unterbricht sein Jammern. Er fragt ihn sofort "Lieber Prophet, toll das Du zu mir gekommen bist. Bitte sag mir nun wie ich Vollendung finde?!“ Da lacht der Prophet und sagt "Oh das ist ganz einfach, aber wie soll ich Dir das erklären?! Stell Dir einfach eine wunderschöne Kuh vor, die auf einer saftigen grünen Weide steht. Alle lieben diese Kuh, weil sie so wundervoll gelassen vor sich hin grast, ruhig ihrem Leben nachgeht und eine herrliche schmackhafte Milch gibt. Doch die Kuh ist 

unzufrieden, weil sie Vollkommenheit erlangen möchte. Sie fängt an zu jammern und unruhig hin und her zu laufen. Schließlich hört sie sogar auf Milch zu geben, nur weil sie besessen ist von der Frage wie sie Vollkommenheit erlangen kann. „Nun lieber Berg“, unterbricht der Prophet seine Rede, „was meinst Du wie diese Kuh Vollkommenheit erlangen kann?“ 

Der Berg ist irritiert über diese Frage, denn es ist doch ganz offensichtlich, das diese Kuh es garnicht nötig hat nach Vollkommenheit zu suchen, denn sie ist ja perfekt und hat ein wunderbares Leben, das sie nur zerstört indem sie unzufrieden wird und nach Vollkommenheit sucht. 

Als er das dem Prophet sagt, sagt der "Eben, das hast Du richtig erkannt und nun stell Dir einen wunderbaren schönen Berg vor, den alle lieben. Die Kühe grasen auf seinem Rücken, 

die Vögel landen auf seinen Bäumen und die 

Menschen wandern auf seinen Wegen….“

 

Hier endet die Kuh und fragt den Mann: 

„Und soll ich weiter erzählen…?“

„Nein“, sagt da der Mann, verneigt sich vor der Kuh und sagt „Danke Du weise Kuh - ich habe verstanden!“ und fortan lebte er ein wunderbares Leben im Bewusstsein, dass er selbst und alles um ihn herum vollkommen war.

 

Meine Freunde lauschten andächtig und waren meiner Geschichte gebannt gefolgt. 

Einer sagte „Ich kenne diese Geschichte - aber das Ende war ganz anders - nämlich so:

 

Hier endet die Kuh und fragt den Mann: 

„Und soll ich weiter erzählen…?“

Der Mann kratzt sich am Kopf und sagt: 

„Ich verstehe nicht ganz. Was haben Berge und Kühe mit mir zu tun? Willst Du mir sagen, dass ich weil ich ja kein Berg bin, zum Propheten laufen kann? Soll ich mich auf die Suche nach dem Prophet machen? Auch bin ich ja keine Kuh, die satt und zufrieden auf der Weide stehen kann…?!“

 

Da drehte sich die Kuh um, um sich wieder dem saftigen grünen Gras zu widmen und lies den Mann einfach den Mann sein.